Abgeordnete informieren sich über Demenz im Wohnpark Lebenszeit
"Mein Mann hatte im Verlauf seiner Krankheit sehr klare Momente", erinnert sich Sabine Messlin an ihren verstorbenen Ehemann. "Er konnte in einem Moment mit einem pfiffigen Kommentar das Fernsehprogramm kommentieren, nur um im nächsten Moment mit ganzer Kraft in sein leeres Frühstücksbrettchen zu beißen." Als pflegende Angehörige eines Demenzpatienten hat sie jahrelang miterlebt, wie ihr Mann immer mehr abbaute, wie er der Realität schließlich nicht mehr Herr wurde, wie er sich im Prozess verlor. Jahres des Schmerzes seien das gewesen, des Nicht-Verstehens, wie ihr die Krankheit einen so vertrauten und geliebten Menschen habe Schritt für Schritt wegnehmen können. Am schlimmsten seien die vermeintlich gut gemeinten Ratschläge anderer gewesen. "Du musst ihn nur mehr geistig fordern", habe sie immer wieder aus ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis zu hören bekommen. Man habe damals versucht, ihre eigene Situation herunterzuspielen, ist sich Sabine Messlin heute sicher. Vielleicht sogar aus Selbstschutz, oder weil viele nicht mit der stark belastenden Situation klarkamen. Dabei sei sie doch diejenige gewesen, die es am eigenen Leibe habe erfahren müssen! In der heutigen Runde sei ihr Wunsch, dass die Pflege von Angehörigen von der Politik und der Allgemeinheit stärker gewürdigt werden.
Akteure aus Politik und aus der Gesundheits- und Pflegebranche waren an diesem 11. April der Einladung des Jenaer Demenz-Informations- und Beratungsvereins (JeDi e.V.) in das Mehrgenerationenhaus "Wohnpark Lebenszeit" der AWO in Lobeda gefolgt. Ziel des "Dialogforums Demenz" war es, miteinander in Austausch zu kommen und auch die Politik für das Thema Pflege und Demenz zu sensibilisieren - um mit Beispielen aus der pflegerischen Praxis auf die parlamentarische Debatte zum Thema vorzubereiten. Neben dem Bundestagsabgeordneten Christoph Matschie und dem Landtagsabgeordneten Dr. Thomas Hartung nahmen auch Frank Albrecht, Vorstandsvorsitzender des AWO Kreisverbands Jena-Weimar und Dr. Sabine Köhler, Jenaer Fachärtzin für Psychiatrie und Psychotherapie, Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte sowie stellvertretende Vorsitzende des JeDi Vereins, an dem Treffen teil.
Noch immer ist die Krankheit Demenz, die mit dem Verlust von geistigen Fähigkeiten wie dem Denken, Erinnern und der Orientierung einhergeht, zu wenig wissenschaftlich erforscht. Durch Pflegereform und Pflegenotstand hat das Thema in den vergangenen Jahren noch einmal an Brisanz gewonnen. Wie kann man zu Pflegende optimal individuell betreuen? Was brauchen Pflegekräfte, um effektiv arbeiten zu können? Wie können pflegende Angehörige durch die Politik entlastet werden? Und was muss sich allgemein im Umgang mit Demenzpatienten ändern? Auf diese Fragen versuchte die Diskussionsrunde Antworten zu finden. Rund 17.000 fehlende Pflegekräfte in Deutschland und kaum Nachwuchs in der Pflegebranche werden Politik und Gesellschaft künftig noch stärker fordern. Hier spielt vor allem auch die Finanzierung einer umfänglichen Pflegereform eine Rolle. Keinesfalls dürften die Mehrkosten auf die Heimbeiträge aufgeschlagen werden, fordert AWO-Vorstandschef Frank Albrecht. "Eine Pflegereform sollte von der Allgemeinheit, nicht von dem einzelnen Heimbewohner finanziert werden. Hier muss die Politik gute Lösungen anbieten!" Gleichzeitig beschreibt er die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung aller Pflegeakteure. Im Kreisverband habe man deshalb eine Case Managerin als interdisziplinäre Pflegeberaterin einberufen.
Jena sei in diesem Bereich bereits relativ gut aufgestellt, stimmt Rainer Heide zu. Das könne man jedoch nicht vom Rest Thüringens behaupten. Ein weiteres Problem nehme in diesem Zusammenhang immer mehr Raum ein: der akute Ärztemangel; gerade in ländlichen Gebieten. Es sei beispielsweise unzumutbar gewesen, dass sie gezwungen gewesen sei, mit ihrem hochgradig dementen Ehemann zur Arztsprechstunde zu gehen, berichtet Sabine Messlin, wenn doch Hausbesuche im Bedarfsfall gesetzlich vorgeschrieben seien. Die gängige Praxis sei allerdings eine andere. Auch die Kommunikation mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen in Anwesenheit ihres Mannes habe sie teilweise als entwürdigend empfunden. Hier sei noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, was die Ausprägungen der Krankheit angingen. Vor allem sei jedoch mehr Versändnis für den Menschen hinter der Krankheit gefordert.
Der JeDi e.V. hatte ebenfalls konkrete Forderungen im Gepäck. So sollte es für Demenzkranke und deren Angehörige beispielsweise eine Thüringer Vernetzungs-Plattform geben, fordert Vereinsvorsitzender Rainer Heide. Auch begrüße er es, wenn eine kurzfristige und individuell angepasste Versorgungsstruktur möglich sei, wie dies beispielsweise bei der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung der Fall sei. Zu guter Letzt könne er sich vorstellen, spezielle Notrufsysteme und Versorgungskioske für Demenzpatienten und deren Angehörige einzurichten. Eine entsprechende Hotline hätte sicher auch ihr geholfen, betont Sabine Messlin. Z.B. als ihr Mann nach einem Bad die gesamte Wohnung unter Wasser gesetzt habe. Hier habe sie nicht gewusst, was sie zuerst tun sollte: ihren Mann ins Krankenhaus fahren? Die Nachbarn warnen? Oder die Fluten aufhalten?
Auch die Unsicherheit darüber, wer für die Diagnose Demenz zuständig sei, nehme derzeit noch zu viele Ressourcen in Anspruch, sind sich die Anwesenden einig. Ferner sollten das Thema Demenz und die entsprechende Diagnostik weiter wissenschaftlich untermauert werden. Das Thema sollte vor allem vor einem sozialwissenschaftlichen Hintergrund betrachtet werden, ist sich Dr. Thomas Hartung sicher.
Am Ende eines konstruktiven Gesprächs standen bereits erste Schritte zum weiteren Vorgehen fest. So bot Dr. Thomas Hartung an, gemeinsam mit Dr. Sabine Köhler einen Termin beim MdK zu vereinbaren. Christoph Matschie möchte unterdessen den Dialog mit den zuständigen Krankenkassen unterstützen. Einig war man sich am Ende der Gesprächsrunde auch, dass man sich künftig in einer guten Regelmäßigkeit treffen wolle. Auch, damit dieses wichtige gesellschaftspolitische Thema in den Köpfen bleibt.
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